Biblische Archäologie

Wo lag Petrus’ Heimat Betsaida?

JERUSALEM – Das biblische Betsaida ist so etwas wie die verlorene Stadt des Neuen Testaments. In den Berichten über die Jünger Jesu spielt sie eine bedeutende Rolle, doch dann verschwindet sie aus den Aufzeichnungen. Archäologen sind ihr am Nordufer des Sees Genezareth auf der Spur – und haben dort nun Hinweise auf den Apostelfürsten Petrus gefunden.

Der Name Betsaida kommt aus dem Aramäischen: Der Ausdruck „bet tsaida“ bedeutet so viel wie „Dorf der Fischer“. Die Stadt, die nach den Quellen in der Nähe des Sees Genezareth gelegen hat, wird im Neuen Testament mehrfach erwähnt. Das Johannesevangelium bezeichnet Betsaida als Herkunftsort der Jünger Andreas, Simon Petrus und Philippus (Joh 1,44).

Seit 2016 führen das „Kinneret Institute for Galilee Archaeology“ und das freikirchliche New Yorker „Nyack College“ unter der Leitung von Mordechai Aviam und Steven Notley Ausgrabungen in el-Araj am Nord­ufer des Sees Genezareth durch, wo sie die Ruinen von Betsaida vermuten. Dabei stießen sie auf ein großes, zuvor unbekanntes jüdisches Dorf aus der Römerzeit und legten eine 27 auf 16 Meter messende byzantinische Basilika frei.

Seit Jahren hofften die Archäologen, eine Widmungsinschrift zu finden, wie sie für die damaligen Basiliken typisch war. Nun sind sie im August fündig geworden: Umrahmt von einem runden Medaillon aus zwei Reihen schwarzer Steinchen und teilweise mit floralen Mustern verziert, ist der Text Teil eines Mosaikbodens im Diakonion, der Sakristei der Kirche. Die Inschrift beginnt mit „Konstantin, der Diener Christi“ und bezieht sich auf den Sponsor der Basilika.

„Oberhaupt der Apostel“

Es müsse sich dabei nicht unbedingt um einen Hinweis auf den römischen Kaiser Konstantin den Großen handeln, der das Christentum anerkannte, betonen die Archäologen. Die Inschrift bitte das „Oberhaupt“ und den „Befehlshaber der himmlischen Apostel“ um Fürsprache, führt Professorin Leah Di Segni aus, deren  Forschungsschwerpunkte griechische Epigraphik und historische Geografie aus römischer und byzantinischer Zeit sind.

Der Titel, den die Inschrift gebraucht, ist von byzantinischen Schriftstellern bekannt und bezieht sich auf den Apostel Petrus. „Die Entdeckung ist unser stärkster Hinweis dafür, dass die Basilika höchstwahrscheinlich Petrus gewidmet war“, sagt Ausgrabungsleiter Steven Notley. „Simon Petrus war der Erste, der den Messias-Auftrag Jesu erkannt hatte. Sein Meister machte ihn daher zum Oberhaupt der Apostel.“ Es sei völlig logisch, dass ihm in seiner Heimat Betsaida eine Kirche gewidmet ist.

Bis ins späte dritte Jahrhundert taucht Betsaida in historischen christlichen und jüdischen Quellen auf. Dann verschwindet es für etwa 200 Jahre aus den geschichtlichen Erinnerungen. Durch Untersuchungen ist erwiesen, dass der See Genezareth zu dieser Zeit anstieg. Wahrscheinlich ging Betsaida zusammen mit anderen Orten am Ufer durch Überschwemmungen und Versandung verloren. Zwischen der römischen und der byzantinischen Schicht fanden die Ausgräber in el-Araj etwa 40 Zentimeter hoch abgelagerten Schlick.

„Da die byzantinische Tradition routinemäßig das Haus von Petrus und Andreas in Betsaida identifiziert, ist es wahrscheinlich, dass die Basilika an ihr Zuhause erinnert“, führt Ausgrabungsleiter Notley aus. Das Mosaik bestärkt somit die Argumentation, dass es sich um genau jene Kirche handelt, die Bischof Willi­bald von Eichstätt beschreibt: Er pilgerte im achten Jahrhundert zu den biblischen Orten rund um den See Genezareth, an denen Jesus dem Evangelium zufolge Wunder gewirkt hat.

„Wo früher ihr Haus war“

Im „Itinerarium S. Willibaldi in Terram Sanctam“, einer Lebensbeschreibung des Bischofs, nimmt die Reise eine bedeutende Stellung ein. Darin heißt es: „Und [von Kapernaum] gingen sie nach Betsaida, von wo Petrus und Andreas kamen. Wo früher ihr Haus war, steht jetzt eine Kirche.“ Die Archäologen identifizieren die Basilika in el-Araj mit der von Willibald genannten Kirche – erst recht, da in diesem Gebiet am Ufer des Sees Genezareth bislang keine andere zerstörte byzantinische Kirche gefunden wurde.

Betsaida war ursprünglich ein bescheidenes Fischerdorf. Ende des ersten Jahrhunderts schreibt der Chronist Flavius Josephus, der Ort sei unter Herodes Philippos, Sohn von Herodes dem Großen, um das Jahr 30 zu einer Polis herangewachsen, einer griechisch-römischen Stadt. Philippos benannte sie nach der Mutter des römischen Kaisers Tiberius in Julias um. Julia galt als schön, klug, sanft, aber auch scharfzüngig. Das Grabmal von Philippos soll in Julias errichtet worden sein.
Allen Funden der vergangenen Jahre zum Trotz ist el-Araj nicht der einzige Kandidat für das biblische Betsaida: Der Südtiroler Benediktiner und Amateur-Archäologe Bargil Pixner (1921 bis 2002) glaubte in den 1980er Jahren, die Heimatstadt des Petrus auf dem Rui­nenhügel et-Tell gefunden zu haben. Dieser liegt heute etwa 250 Meter östlich des Jordan und rund zwei Kilometer vom See Genezareth entfernt.

„Et-Tell“ bedeutet einfach „der Hügel“. Er steigt auf eine Höhe von 25 Metern an, ist 400 Meter lang, 200 Meter breit und umfasst eine Fläche von 20 Hektar. Betsaida sei in den vergangenen 2000 Jahren tektonisch angehoben worden, erklärte Pixner die erhöhte Lage. Auch sei seither der Wasserspiegel des Sees gesunken, während sich das Jordandelta durch Ablagerungen nach Süden verschoben habe. Zur Zeit Jesu soll der See Genezareth mit einer Lagune noch bis zum Fischerort gereicht haben.

Seit 1987 führt das „Bethsaida Excavations Project“ hier Grabungen durch. Das Hauptinteresse der Archäologen gilt der Kulturschicht, die aus der späten hellenistischen und frühen römischen Epoche stammt. Dort hoffte man, sowohl das neutestamentliche Betsaida als auch die von Herodes Philippos erbaute Stadt Julias zu finden. Die Ausgräber entdeckten unregelmäßige, schmale und mit Feldsteinen gepflasterte Wege, die sich der Topografie der Hügelkuppe anpassen.
Die Häuser waren teils sogar unterkellert. Bisher wurden zwei davon vollständig ausgegraben. In einem entdeckte man Angelhaken, Basalt-Anker mit Seillöchern, Steingewichte, die vielleicht zur Messung der Wassertiefe verwendet wurden, und Nadeln zum Herstellen und Reparieren von Fischernetzen. Nach den Fundstücken bezeichneten die Archäologen das Gebäude als das „Haus des Fischers“.

Als Johannes Paul II. im Jahr 2000 das Heilige Land besuchte, stand zunächst auch et-Tell als mögliche Heimat des allerersten Papstes auf dem Programm. Aus Zeitgründen wurde der Besuch gestrichen. Dafür berichtete Pixner dem Papst bei einer kurzen Begegnung im benachbarten Tabgha von den Ausgrabungen und überreichte ihm die Kopie eines Schlüssels zum „Haus des Petrus“, den er im Hof des „Fischerhauses“ gefunden hatte. Das Haus wird in die späte hellenistische oder frühe Römerzeit datiert.

Das zweite Gebäude, das „Haus des Winzers“, hatte einen Innenhof von 150 Quadratmetern und eine angrenzende 50 Quadratmeter große Küche. Dort fanden die Ausgräber einen Weinkeller mit Überresten von 40 auf 60 Zentimeter großen Weinkrügen. Die Ausgrabungsergebnisse vermitteln einen guten Einblick in das Leben der Menschen damals und weisen auf die Bedeutung des Fischfangs und des Weinbaus für die Wirtschaft des Ortes hin.

Jahrelang stellte kaum jemand die Gleichsetzung von Betsaida mit et-Tell in Frage. Dann stießen die Archäologen in el-Araj auf die ­Ruinen der Basilika. „Eines unserer Ziele bestand darin, zu überprüfen, ob wir dort eine Schicht aus dem ersten Jahrhundert finden, die es uns ermöglicht, einen besseren Kandidaten für die Identifizierung des biblischen Betsaida vorzuschlagen“, erklärt Archäologe Mordechai ­Aviam, der die Grabung zusammen mit Notley leitet.

Zentrale Funde sind die byzantinische Kirche und ein Kloster daneben. „Das im Schlamm vergrabene  Mosaik und seine Reinigung in der glühenden Hitze dieses Sommers waren der Höhepunkt der Saison“, sagt der israelische Wissenschaftler. „Die Ausgrabungsergebnisse deuten auf Betsaida als Heimat von Petrus und Andreas hin“ – und nicht auf Kafarnaum, wie 1921 der franziskanische Archäologe  Gaudenzio Orfali vermutet hatte.

„Es gibt auch in Kafarnaum ein byzantinisches oktogonales Gotteshaus, das aber nicht die Kirche der Apostel gewesen sein kann“, meinen Notley und Aviam. Die Petrus-Inschrift in el-Araj ist für die beiden Archäologen ein klarer Widerspruch zu Orfalis Theorie. Sie bestätige den Ort als biblisches Betsaida – „eine Stadt, die von Jesus verflucht wurde, weil die Einheimischen seine Botschaft nicht akzeptierten“, sagt Dror Ben-Yosef, Leiter der Altertumsbehörde in Israels nördlichem Landesteil.  
Im Oktober sollen in el-Araj die Ausgrabungen an den Gebäuden aus römischer Zeit und im Kirchenkomplex weitergehen. Die Archäologen hegen die Hoffnung, dann auch eine Inschrift zu finden, die an Andreas erinnert. Da er als Bruder von Petrus gleichfalls aus Betsaida stammte, könnte die Kirche beiden Aposteln geweiht gewesen sein.

Ebenfalls noch ungeklärt ist, wie die byzantinische Apostelkirche zerstört wurde: durch das Erdbeben von 749 – oder durch menschliche Gewalt? Auf jeden Fall dürften die neuen Entdeckungen den christlichen Tourismus am See Genezareth beflügeln. Und sie werden wohl nicht die letzten gewesen sein.

Karl-Heinz Fleckenstein

02.09.2022 - Archäologie , Heiliges Land , Israel